Hinter geschlossenen Augen: Die Erfahrung der Geistesblindheit bei nicht-kongenitaler Aphantasie

Eine persönliche Reise zur Erkundung des Wesens der Visualisierung, ihrer Bedeutung und spirituellen Wichtigkeit, und was man daraus lernen kann.
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Inhaltsübersicht

Eines der bleibenden Geheimnisse meines subjektiven Lebens ist das Fehlen visueller Bilder in meinem Kopf. Obwohl ich in Bildern träume, macht mein Geist im Wachzustand keine visuellen Bilder von Dingen. Erst vor relativ kurzer Zeit habe ich erfahren, dass diese Unfähigkeit zu visualisieren einen Namen hat: “Aphantasie” oder “Geistesblindheit”.

Wie viele Leser zweifellos wissen, ist Aphantasie heute als eine Form der Neurodiversität anerkannt. Ihr neurologisches Substrat wurde durch die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) und andere Messungen der Hirnaktivität eindeutig nachgewiesen, bei denen sich die für das Vorstellungsvermögen zuständigen Hirnregionen als völlig untätig oder relativ inaktiv erweisen[i].

Ich kann mich daran erinnern, dass sich in meiner Kindheit beim Vorlesen von Gute-Nacht-Geschichten Bilder in meinem Kopf bildeten, ich bin also nicht angeboren aphantasisch (wie es offenbar einige Menschen sind). Dies wird als nicht-kongenitale Aphantasie bezeichnet. Meine persönliche Theorie ist, dass durch das frühe Erlernen des Lesens meine “Immobilien” im Gehirn von Bildern auf Konzepte umgestellt wurden. Mit anderen Worten, ich behaupte, dass meine linkshemisphärische/verbale Dominanz die Entwicklung meiner visuell-räumlichen Fähigkeiten überschattet hat. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es scheint recht plausibel zu sein.

Es ist nicht meine Absicht, an dieser Stelle näher darauf einzugehen, was über Aphantasie oder ihre neurologischen Grundlagen bekannt ist. Vielmehr möchte ich beschreiben, was für mich zu einer tiefgreifenden Untersuchung über die Natur der Visualisierung und ihre Bedeutung geworden ist. Diese Untersuchung umfasste Forschung, kontemplative Reflexion und eine Reihe von subjektiven meditativen Experimenten. In den folgenden Abschnitten dieses Aufsatzes werde ich die verschiedenen Facetten meiner Untersuchung beschreiben und darlegen, was ich bei der Beschäftigung mit diesem Prozess gelernt habe.

Warum ist es für mich so wichtig, etwas über Aphantasie zu erfahren?

Die entscheidende Frage, die sich mir stellte, als ich mit dieser Untersuchung begann, war: Warum?

Warum war das Thema der Aphantasie für mich so interessant?

Warum sollte das Fehlen von Bildern für mich bedeutsamer sein als das Fehlen eines Orientierungssinns oder einer anderen kognitiven Fähigkeit? Was stand auf dem Spiel?

Als ich darüber nachdachte, erkannte ich, dass ich mehrere Überzeugungen über Bilder habe, die ihnen eine besondere Bedeutung verleihen. Erstens ist die Bildsprache die Sprache der Träumerei, der Poesie, der Fantasie und des Archetyps. Sie erschließt tiefe Schichten der Psyche, drückt Gefühle aus und öffnet einen Kanal zur Weisheit und Kreativität, die in jedem von uns fließt. Die Bildsprache hat eine privilegierte Verbindung zum Bereich des Unbewussten. Daher ist die Sprache der Bilder eine, die ich gerne sprechen und verstehen möchte.

Als ich mich mit diesen Überlegungen beschäftigte, erkannte ich auch, dass das Studium von aphantasia, selbst unter dem Deckmantel einer eingehenden Untersuchung, ein blasser Ersatz für das war, was ich wirklich wollte: das Vorstellungsvermögen und die visuelle Vorstellungskraft wiederzuerlangen, die ich als kleines Kind genossen hatte.

Zweitens wurde mir klar, dass ich die Fähigkeit zu visualisieren mit spirituellen Fähigkeiten verbinde, die in der indischen Philosophie als “Öffnung des dritten Auges” bezeichnet werden: das Tor, das die inneren Bereiche und Räume des höheren Bewusstseins miteinander verbindet.

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht wichtig zu erwähnen, dass Aphantasie für mich erst ein “Problem” wurde, als ich in meinen 20ern zu meditieren begann. In einer tibetisch-buddhistischen Versammlung, an der ich früher teilnahm, wurden die Meditierenden zum Beispiel gebeten, sich den Buddha vorzustellen, der golden und strahlend auf einem Thron sitzt und mit grenzenloser Liebe und Mitgefühl nach außen blickt. Diese Anleitung war für mich ein Fehlstart. In anderen bewusstseinsorientierten Workshops, in denen Methoden der geführten Bildersprache gelehrt wurden, stieß ich auf eine ähnliche Barriere. Alles, was ich in meinem Kopf vorfand, war eine schwarze Leere; gelinde gesagt, extrem frustrierend.

Glücklicherweise wurde dieses spezielle “Problem” gelöst, als ich entdeckte, dass es viele Wege in den tiefen meditativen Raum gibt, die keine Visualisierung erfordern. Ich hatte jedoch weiterhin das Gefühl, dass das Fehlen von Bildern etwas Wichtiges war, das mir fehlte; ein tiefer Makel.

Kein scharfes Auge haben: Die Definition des Defizits

Als ich die Fähigkeit zur Visualisierung weiter erforschte, stellte sich mir als nächstes die Frage: Was? Welche spezifischen Wahrnehmungsfähigkeiten fehlten mir über das allgemeine Konzept “Visualisierung” hinaus? “Aphantasie” wird oft als die Unfähigkeit beschrieben, “in Bildern zu denken”, aber ich finde dieses Konzept zu allgemein und oberflächlich, um sehr hilfreich zu sein. Stattdessen haben sich für mich einige grundlegende Unterscheidungen herauskristallisiert.

Erstens ist die primäre Fähigkeit, die mit dem Begriff “visualisieren” gemeint ist, die Fähigkeit, sich freiwillig ein Bild von etwas im Kopf zu machen. Dies scheint mir ganz anders zu sein als die unaufgeforderten Bilder, die in Träumen sowie am Übergang zwischen Schlaf und Wachen auftauchen (“hypnagogic/ hypnopompische Imagery“), Tiefenentspannung, Hypnose oder Meditation. Hypnagoge Bilder können aus isolierten mentalen Bildern bestehen oder in Form von “mentalen Filmen”, Tagträumen, Träumereien oder Fantasien auftreten. Ich gehe davon aus, dass diese Art von Bildern immer dann auftaucht, wenn wir unser Engagement für zielgerichtete Aktivitäten loslassen. Mit anderen Worten, sie ist staatsabhängig.

Nach der Lektüre vieler Berichte über Aphantasie vermute ich, dass es viele individuelle Unterschiede gibt. Um etwas von der Komplexität meiner eigenen Erfahrung zu verdeutlichen: Freiwillige Bilder sind bei mir völlig abwesend, aber ich träume in Bildern und habe gelegentlich hypnagogische Bilder. Ich glaube nicht, dass ich jemals einen “Tagtraum” hatte. In auffälligem Kontrast zu meiner Aphantasie habe ich auch einen sehr leichten Zugang zu “pareidolischen Bildern” – eine Art von Bildern mit offenen Augen, bei denen der Verstand Bilder wahrnimmt, die auf zufällige Muster wie die Wolken am Himmel oder die Struktur eines Teppichs projiziert werden.

Am rätselhaftesten ist, dass ich bei manchen Gelegenheiten die Erfahrung mache, dass sich eine Tür in eine geistige Welt öffnet, in der hypnagogische Bilder plötzlich sehr präsent sind. Ich habe keine Ahnung, was bei mir zu diesen Zeiten anders ist. Unabhängig davon, warum dies geschieht, ist meine Fähigkeit, Bilder zu erzeugen, offensichtlich intakt!

Kann die Fähigkeit, mentale Bilder zu erzeugen, kultiviert werden?

Ausgehend von der Annahme, dass die Fähigkeit, sich Bilder vorzustellen, eine Art geistiger Muskel ist, der durch Übung gestärkt werden kann, habe ich verschiedene Methoden erforscht, von denen ich hoffe, dass sie die Fähigkeit meines Geistes, Bilder zu erzeugen, verbessern werden.

Die grundlegende Methode, die ich zur Kultivierung von Bildern verwende, ist die Meditation im Sitzen mit dem Fokus der Aufmerksamkeit auf mein Gesichtsfeld. Das erste, was mir auffiel, als ich begann, auf diese Weise zu meditieren, war die etwas schockierende Erkenntnis, dass ich trotz meiner lebenslangen Praxis der Sitzmeditation nur selten viel Zeit für das Schauen aufgewendet habe! Auf jeden Fall dauerte es nicht lange, bis ich begann, meine visuelle Erfahrung mit entspannter und aufnahmebereiter Aufmerksamkeit genauer zu untersuchen, und der allgemeine Eindruck von schwarzer Leere begann, Untergründe von feinkörnigen geometrischen Linien und Mustern zu enthüllen, die sowohl in Helligkeit als auch Farbe variierten. Das Feld war nicht statisch, sondern dynamisch.

Mir wurde klar, dass ich, wenn ich meinen Geist dazu “einladen” wollte, Bilder zu machen, meine Aufmerksamkeit auf das richten müsste, was ich tatsächlich sehe, wenn ich in den inneren Raum schaue, und nicht auf das, was nicht vorhanden ist.

Einblicke aus meinem Streben, mit dem geistigen Auge zu sehen

Die Kultivierung der Fähigkeit, Bilder zu erzeugen, ist für mich noch nicht abgeschlossen, und ich habe die Absicht, daran festzuhalten. Ich bin mir jedoch auch eines subtilen Widerspruchs bewusst, der diesem Bestreben innewohnt: Einerseits scheint es geschickt zu sein, das zu üben, was man zu verbessern sucht; andererseits bin ich mir auch bewusst, dass ich auf einer gewissen Ebene immer noch versuche, etwas zu “reparieren”, und diese Anstrengung ist nicht gekonnt.

Ich habe über diesen Widerspruch – oder diese Verwirrung – nachgedacht. – haben sich einige zusätzliche Erkenntnisse ergeben, die ich als hilfreich empfunden habe:

  1. Es hat sich befreiend angefühlt, zu erkennen, dass Bilder nur eine Form sind, in der der Geist Bedeutungen ausdrückt. Obwohl mein Gehirn/Verstand, aus welchen Gründen auch immer, nicht ohne weiteres Bilder macht, habe ich doch eine hoch entwickelte visuelle Fähigkeit, die sich leicht auf äußere Bilder konzentriert, denen ich begegne und die ausdrücken, was ich fühle.
  2. Während ich zuvor unbewusst davon ausgegangen war, dass Aphantasie eine Einschränkung darstellt, wurde mir bei dieser Untersuchung (wie bei vielen früheren Untersuchungen) klar, dass die Annahme, eingeschränkt zu sein, die eigentliche Einschränkung war.
  3. Das Gefühl, dass in uns etwas grundsätzlich falsch ist, fehlt oder unzureichend ist, ist eine häufige, vielleicht universelle menschliche Erfahrung, die damit zu tun hat, wie unser Verstand die Erfahrung des Selbst organisiert. Mir wurde klar, dass die Aphantasie zum Mittelpunkt dieser Gefühle geworden war, und es wurde auch klar, dass das Erlernen von Visualisierungen dieses Problem nicht lösen würde.
  4. Mein Verstand kann zwar nicht ohne weiteres Bilder machen, aber was er gut kann, ist, das große Ganze zu erfassen – eine Fähigkeit, die Dinge klar und mit Unterscheidungsvermögen zu sehen.
  5. Mehr Zeit mit Bildern und weniger Zeit mit Worten zu verbringen, wäre wahrscheinlich hilfreich, um mein geistiges Auge in Richtung Visualisierung zu lenken.

Ungeachtet der Aphantasie war und ist visuelle Schönheit – und insbesondere die Erfahrung von Licht – ein Tor, das transzendente Erfahrungen in mir weckt und meine Erfahrung des Lebendigseins und der Gegenwart verstärkt. Zumindest in dieser Hinsicht ist mein Verstand alles andere als blind.

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YES! “…general impression of black blankness began to reveal underlayers of fine-grained geometric lines and patterns which had variations in both brightness and color. The field was dynamic rather than static.”

I am total multi-sensory, regularly meditate and have learned to look deeper into the blankness. What I perceive is a golden, flowing mist which leads me into a level of Knowing/understanding. For me, proprioception is also involved. If I set the intention; and BELIEVE that I am standing in front of a golden glowing Buddha, then that is exactly where I am – even without any sensory input.
I also have that quiet mind that many seek – white noise is my auditory companion. Definitely an advantage within meditation practice!

Excellent article. Thank you.