Aphantasie: Vorstellungskraft anders erleben
Aphantasie, die Unfähigkeit, willentlich visuelle Bilder im Kopf zu erzeugen, ist ein faszinierendes Phänomen, dessen sich viele nicht bewusst sind. Während die meisten Menschen problemlos lebhafte Bilder heraufbeschwören können, denken Menschen mit Aphantasie oft abstrakter oder konzeptioneller. Es geht nicht um fehlende Vorstellungskraft, sondern darum, die Vorstellungskraft anders zu erleben. Das Experiment “Ball auf einem Tisch ” bietet einen aufschlussreichen Einblick in diese gegensätzlichen inneren Welten.
Das Experiment mit dem Ball auf dem Tisch
Dank an u/Caaaarrrl für dieses Experiment.
Stellen Sie sich einen Ball auf einem Tisch vor (Bild, Vorstellung, wie auch immer Sie es nennen wollen). Stellen Sie sich nun vor, jemand kommt an den Tisch und gibt dem Ball einen Stoß. Was passiert mit dem Ball?
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Beantworten Sie diese Fragen:
Welche Farbe hatte der Ball?
Welches Geschlecht hatte die Person, die den Ball geschoben hat?
Wie sahen sie aus?
Welche Größe hat der Ball? Wie eine Murmel oder ein Baseball oder ein Basketball oder etwas anderes?
Was ist mit dem Tisch, welche Form hatte er? Woraus besteht es?
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Und nun die wichtige Frage:
Wussten Sie es bereits, oder mussten Sie sich für eine Farbe, ein Geschlecht, eine Größe usw. entscheiden, nachdem Ihnen diese Fragen gestellt wurden?
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Sind Sie ein Visualisierer oder ein Konzeptualisierer?
Wenn Sie einen Visualisierer nach dem Ball auf dem Tisch fragen, haben sie (die meisten) sofort Antworten auf alle Fragen. Es ist auch wahrscheinlicher, dass sie zusätzliche Informationen liefern, nach denen Sie nicht gefragt haben. Dies ist der erste Hinweis darauf, dass die Person sich die Szene möglicherweise tatsächlich vorstellt. Ein Visualisierer könnte zum Beispiel sagen: “Der Ball sieht aus wie der Pixar-Ball. Es ist gelb und hat einen blauen Streifen mit einem roten Stern. Der Ball ist etwa so groß wie ein Baseball. Es steht auf einem ovalen Holztisch mit Kratzern auf der Oberseite usw.”.
Die Konzeptualisierer hingegen gehen anders vor. Für sie ist der Ball, der auf dem Tisch liegt, in erster Linie eine Idee. Sie können zwar das mögliche Ergebnis vorhersehen – ein Ball, der angestoßen wird, könnte rollen und wahrscheinlich herunterfallen -, aber viele spezifische Details, wie die Farbe des Balls, seine Größe, das Material des Tisches oder das Geschlecht der Person, bleiben ihnen möglicherweise verborgen. Es ist möglich, dass sie diese Details nur anerkennen oder berücksichtigen, wenn sie direkt dazu aufgefordert oder befragt werden. Konzeptualisierer erfassen das Wesentliche oder den Kerngedanken, ohne sich ein detailliertes Bild zu machen.
Zwei unterschiedliche Denkstile: Visualisieren vs. Konzeptualisieren
Man kann sich diese unterschiedlichen Herangehensweisen an den Ball auf einem Tisch als Visualisierung und Konzeptualisierung vorstellen. Diese beiden unterschiedlichen Denkstile wurden erstmals 1963 in dem Text“The Living Brain” von Walter W. Grey beschrieben, der einen einzigartigen Einblick in die Art und Weise bietet, wie wir Informationen verinnerlichen und verarbeiten.
Visualisieren: Bei diesem Stil werden lebhafte, detaillierte mentale Bilder geschaffen. Visualisierer “sehen” Szenarien vor ihrem geistigen Auge, oft komplett mit Farben, Formen und komplizierten Details, so als würden sie einen Film ablaufen sehen.
Konzeptualisieren: Bei diesem Stil geht es darum, das Wesentliche ohne bildliche Darstellung zu verstehen. Konzeptualisierer erfassen Ideen und Szenarien anhand ihres Wissens und ihrer Erfahrungen, ohne sie aktiv zu “sehen”, und konzentrieren sich eher auf die abstrakte Idee als auf visuelle Besonderheiten.
Konzeptualisierung: Die aphantasische Sichtweise
Das Experiment mit dem Ball auf dem Tisch beleuchtet ein Merkmal der Aphantasie – das konzeptionelle und nicht das visuelle Denken. Menschen mit Aphantasie können die Kugel, die vom Tisch rollt, nicht sehen, aber sie können das Konzept verstehen und das Ergebnis vorhersagen. Ihr Denkprozess ist eher abstrakt und beruht eher auf Wissen, Logik und Verständnis als auf visueller Darstellung.
Der Begriff “Aphantasie” stammt vom griechischen Wort phantasia ab, das allgemein mit “Einbildung” übersetzt und oft im Zusammenhang mit Visualisierung und Träumen beschrieben wird. Das “a” in“a-phantasia” bezeichnet das Fehlen dieser Krankheit. Das bedeutet“ohne Phantasie“. Dies kann jedoch irreführend sein. Aphantasiker können sich etwas vorstellen, träumen und schaffen. Der aphantasische Verstand funktioniert einfach ohne die begleitende Diashow.
Wichtig ist, dass die Aphantasie weder eine Störung noch eine Einschränkung ist. Tatsächlich haben viele Aphantasten ein ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen und zeichnen sich durch abstraktes Denken aus. Ihre kognitiven Fähigkeiten sind nicht vermindert, sie werden nur anders kanalisiert.
Implikationen und Überlegungen
Das Verständnis der Aphantasie und des breiteren Spektrums der menschlichen Vorstellungskraft ist wesentlich, um die Vielfalt des menschlichen Denkens zu erkennen. Das Experiment “Ball auf dem Tisch” ist mehr als nur ein spielerisches Experiment; es beleuchtet unsere einzigartigen inneren Erfahrungen. Es erinnert uns daran, dass wir zwar Erfahrungen teilen, aber die Art und Weise, wie wir sie verinnerlichen, verarbeiten, uns erinnern und uns vorstellen, sehr unterschiedlich sein kann.
Wenn Sie also das nächste Mal am Tisch sitzen, probieren Sie das Experiment mit dem Ball auf dem Tisch aus. Wenn Sie jemanden bitten, sich eine Situation vorzustellen, denken Sie daran, dass nicht jeder ein detailliertes Bild im Kopf hat. Einige werden klare Bilder sehen, während andere die Idee begreifen werden. Beide Denkweisen sind gültig und zeigen, wie unterschiedlich unser Gehirn arbeitet!